Wenn ich die Farbe wechsle
- akhaag
- 30. Jan. 2021
- 6 Min. Lesezeit

Es ist Januar. Die meisten Tage sind kurz und grau und verregnet. Wenn ich nach draußen schaue, dann scheint alles um mich herum in einem tiefen Winterschlaf zu stecken und noch lange nicht daran zu denken, aufwachen zu wollen. Und auch wenn ich den Januar deshalb oft leise verflucht habe, weiß ich gleichzeitig, dass ich ihn genauso brauche. Denn gerade, weil im Moment alles ruht und ich im Außen nichts finden kann, habe ich meinen Blick nach innen gerichtet. Quasi gezwungenermaßen. Doch eben dieses „gezwungenermaßen“ war tatsächlich das Beste, was mir passieren konnte. Nur so habe ich mich in mir selbst auf die Suche nach Farbe gemacht. Und das, ohne dass ich es habe kommen sehen. Angefangen hat diese Suche nämlich ganz unerwartet, als ich an den Weihnachtstagen nochmal alle Harry Potter Teile geschaut habe. Das habe ich schon oft getan und deshalb habe ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht, dass die Filme dieses Mal etwas Besonderes in mir auslösen könnten. Es gab Dinge, die für mich einfach feststanden, weil ich wusste, was mich erwartet und wie ich die Figuren finde. Und so stand für mich auch ganz außer Frage: Wenn ich mir aussuchen könnte, welche Figur ich sein möchte, dann hätte ich immer Hermine sein wollen. Sowieso alle, die ich kannte, wollten unbedingt sie sein. Hermine weiß alles, sie ist total begabt, schön und in allem die Beste. Das hat mich beeindruckt und vielleicht sogar ein bisschen neidisch gemacht. Genau deshalb war ich umso erstaunter, wie sich meine Wahrnehmung bei diesem Mal plötzlich verschoben hat: Auf einmal war Hermine gar nicht mehr die Person, die mich am meisten angesprochen hat. Ich fand sie noch immer sympathisch, aber der Charakter, der mich dieses Mal total fasziniert hat, war Luna Lovegood. Und das auf ihre ganz eigene Art. Oder besser gesagt gerade deswegen. Sie spricht mit Geistern und Zauberwesen, wodurch sie eben die kleinen Dinge sieht, die für andere vielleicht unsichtbar wären, weil sie viel zu schnell darüber hinwegspringen würden. Sie ist ganz ausgefallen, oft auch ein bisschen verträumt und exzentrisch. Aber sie ist vor allem immer ganz sie selbst. Und das, obwohl sie wegen ihrer Eigenheiten in der Zauberwelt von vielen belächelt und abgetan wird. Doch sie verstellt sich nicht wegen und schon gar nicht für andere Leute. Stattdessen lebt sie all das mit einer Selbstverständlichkeit, als käme für sie gar nichts anderes in Frage. Luna hat diese ruhige Kraft, die ganz natürlich wirkt und nicht so, als müsste sie sich vor anderen beweisen. Und diese Kraft hat bis zu mir gestrahlt, denn durch sie habe ich gefühlt: Genau das will ich mir wieder zurückholen.
Was will ich wirklich?
Mir ist bewusst geworden, dass ich in den letzten Jahren oft gar nicht so richtig wusste, was ich will. Also so wirklich will. Natürlich gab es Dinge, die mir Spaß gemacht haben und mit denen ich gerne meine Zeit verbracht habe. Aber trotzdem hat mir etwas gefehlt, denn auch wenn sich diese Dinge gut angefühlt haben, hatten sie eben nicht diese Kraft. Irgendwie wusste ich: Da geht noch mehr. Wonach ich mich nämlich eigentlich gesehnt habe, war diese richtige Begeisterung, die wirklich von ganz tief drinnen kommt. Das sind die Momente, in denen ich ein vorfreudiges Kribbeln im Bauch bekomme, als wäre da ein kleines Feuerwerk in mir. Einfach weil ich das, was ich gerade mache, so toll finde. Die Dinge, von denen ich spreche, sind die, mit denen wir unsere Seele dekorieren. Bei denen es sich anfühlt, als würden wir einen Teil von uns selbst finden im Leben da draußen. Und die können in allen möglichen Formen ihren Weg zu uns finden. Das können äußerliche Dinge sein, die wir direkt an uns tragen und die uns für andere erkennbar machen - Bilder als Tattoos auf der Haut, die eine Geschichte über uns erzählen. Ausgefallene und bunte Kleidung, die unsere inneren Farben nach draußen tragen. Oder Frisuren, die rebellieren und eine Haltung ausdrücken. Aber es können auch Dinge sein, die wir in uns drinnen tragen. Die wir nur für uns machen, weil sie uns anziehen. So ging es mir vor ein paar Wochen, als ich mich ganz spontan zu einem Astrologie-Workshop angemeldet habe. Die Astrologie hat mich schon als Kind fasziniert und ich habe mich immer ein bisschen mit dem Thema beschäftigt, aber nie so richtig ausführlich. Denn ich habe das in meinem stillen Kämmerlein gemacht, weil ich Angst hatte, dafür verurteilt zu werden und als Eso-Tante abgestempelt zu werden. Doch als ich den Online-Kurs entdeckt habe, wusste ich: Das ist jetzt mein Luna-Lovegood-Moment. Ich will das unbedingt machen, weil es mich total neugierig macht. Ich war wie ein kleines Kind, das es kaum noch abwarten kann, endlich in die Schule zu kommen und Neues zu lernen. Weil es dieses Mal nur für mich war. Nicht für meinen späteren Beruf, oder für mein Studium – sondern ganz für mich. Natürlich müssen das aber auch nicht immer Dinge sein, die viel Überwindung kosten und ganz neu sind. Manchmal kann das auch heißen, Altes aufleben zu lassen. Das habe ich zum Beispiel auch getan, als ich nach Ewigkeiten nochmal meine Inliner ausgepackt habe. Auf einmal wusste ich wieder, warum ich damit als Kind fast jeden Nachmittag nach der Schule durch die Straßen gefahren bin. Ich habe es geliebt, Inliner zu fahren, nur habe ich das mit der Zeit komplett aus den Augen verloren und als ferne Kindheitserinnerung abgespeichert, die nichts mehr mit mir zu tun hat. Weil es vielleicht nicht das „coole“ Hobby war, das ich mir für mich ausgesucht hätte und das gerade im Trend ist. Doch als ich dann wieder auf meinen Rollschuhen stand und mir der Fahrtwind durch die Haare geweht ist, da habe ich mich so frei gefühlt und wusste: Genau das will ich gerade, ich würde nichts lieber machen. Es hat mir gezeigt, wie kostbar es ist, zu spüren, was ich wirklich will. Vor allem unabhängig davon, ob es für andere vielleicht „uncool“ ist, oder verschwendete Zeit.
Wenn ich wieder bunt werde
Während ich all das schreibe, hört sich das in meinem Kopf alles so leicht an, dass ich selbst kaum verstehen kann, warum mir das in den letzten Jahren eigentlich so schwergefallen ist. Was ist denn schon dabei? Es müsste ja eigentlich das Leichteste auf der Welt sein, einfach nur uns selbst treuzubleiben und unser Wesen auszuleben, unabhängig davon was andere denken. Das sind ja schließlich wir, mit unseren Eigenheiten und Vorlieben. All das macht uns aus. Und trotzdem kann es so verdammt schwer sein, egal ob es sich um ein neues Hobby, eine Lebensweise, oder ein ganz ausgefallenes Outfit handelt. Denn zu dem, was Luna Lovegood da lebt, gehört eine ganze Menge Mut. Besonders in einer Gesellschaft, in der wir so schnell damit sind, uns zu vergleichen, Menschen in Schubladen zu stecken und zu verurteilen. Luna hält es aus, dass sie nicht dazugehört und von vielen anderen für das, was sie lebt, abgelehnt wird. Und das braucht ganz schön viel Stärke. Als Kinder leben wir diese Stärke meistens alle noch und es fällt uns viel leichter, zu uns zu stehen. So wollte ich im Kindergarten zum Beispiel partout keine Hosen tragen, sondern immer nur Kleider. Mir war es egal, ob das unpraktisch ist, oder ob die anderen Kinder das auch machen. Ich wollte es, also habe ich es gemacht und gar nicht erst darüber nachgedacht. Doch sobald wir verstehen, wie die Welt um uns herum funktioniert, wird es schwerer. Wir passen uns an und lassen vieles sein, um nicht ausgeschlossen zu werden. Dieses Gefühl wollen wir schließlich - wenn es geht - vermeiden, denn nicht dazuzugehören ist und bleibt ein schweres Gefühl. Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, dann weiß ich, dass ich dieses Gefühl nicht dazuzugehören, sogar vorher schon oft hatte. Und das obwohl ich eher angepasst und mit angezogener Handbremse gelebt habe, weil ich mir vieles nicht erlaubt habe. Weil ich eben nicht negativ auffallen wollte. Nur was mir da gefehlt hat, war die Kraft, die ich aus meinen Eigenheiten ziehen kann. Je mehr ich diese Seiten nämlich auslebe und meine inneren Feuerwerke zulasse, desto mehr kann ich diesen Raum in mir mit Leben füllen. Diese Feuerwerke können die unangenehmen Gefühle vielleicht nicht eins zu eins aufwiegen, aber sie zeigen mir, dass sie es wert sind. Sie machen Sehnsucht nach mehr und eben das macht den Unterschied: Ich weiß jetzt, wie gut sich das anfühlt und das gibt mir die nötige Kraft, weiterzumachen. In diesen Momenten ist es so, als würde ich meine Farbe wechseln. Ich bin dann nicht mehr länger grau und verwaschen, ich bin bunt. Weil ich ganz bei mir bin. Ich bin ich. Und wie Paula Modersohn Becker schon gesagt hat: Ich hoffe, es immer mehr zu werden.
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