top of page

Ich brauche keine Rettungsweste mehr

  • akhaag
  • 8. Nov. 2020
  • 6 Min. Lesezeit

Wir kennen sie bestimmt alle, Lebensweisheiten wie: “Carpe diem”, “Live life to the fullest” oder “You only live once”. Normalerweise habe ich solche Sprüche immer ein bisschen belächelt, manchmal vielleicht sogar etwas ironisch mit den Augen gerollt. Das waren für mich Kalendersprüche, die alles, aber damit auch nichts so richtig sagen. Das war mir das zu einfach. Irgendwie zu plump. Doch auch wenn ich sie eigentlich gar nicht ernst nehmen wollte, haben sie oft trotzdem ein Gefühl von Druck in mir ausgelöst, so ein leichtes Engegefühl in der Brust. Denn da war sie, die Sorge, dass ich meine Zeit hier auf der Welt nicht richtig nutze und nicht intensiv genug lebe. Dass ich mir selbst im Weg stehe und mich zu schnell ausbremse. Nur woher kommt sie bloß auf einmal, diese Angst? Ist sie schon immer da gewesen und ich habe sie nur nie so richtig sehen wollen? All diese Fragen sind mir in den letzten Wochen immer öfter in den Kopf gekommen, denn ich habe ein Buch gelesen, das mich sehr zum Nachdenken gebracht hat. Es war eins der Bücher, bei dem ich gefühlt habe, dass ganz viel Wahrheit darin steckt. Fast so, als hätte die Autorin es nur für mich geschrieben, weil ich genau diese Worte in dem Moment gebraucht habe. Was mich daran nämlich so fasziniert hat, war, wie sehr die Autorin das Leben feiert. Und zwar nicht auf die Art und Weise, bei der man das Gefühl hat, dass die Person eine Leere in sich mit Aktivitäten und Reisen füllen muss. Bei ihr war das anders, irgendwie tiefer. Ich konnte fühlen, wie sehr sie das Leben liebt. Und zwar nicht nur wegen all der schönen Momente, in denen es einem leichtfällt, es zu lieben. Sie liebt es, mit allem was eben dazugehört und freut sich einfach, dass sie die Chance hat, hier zu sein. Eine Lebenskünstlerin sozusagen. Sie hat es verstanden zu genießen, in all den einfachen Momenten, die auf den ersten Blick vielleicht unscheinbar wirken. Natürlich hat sich im selben Atemzug mein Kopf eingeschaltet und mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich sie ja nur aus ihrem Buch kenne und nicht weiß, ob sie das wirklich so lebt. Aber mein Bauchgefühl wusste sofort: Das muss ich doch gar nicht wissen, denn das was sie durch ihre Worte transportiert hat, das hat mir vollkommen gereicht. Sie hat einen Teil von mir wachgekitzelt, der ganz laut gesagt hat: Das will ich auch. Und so konnte ich durch das Buch endlich das Gefühl benennen, das ich schon so lange in mir gespürt habe. Auf einmal konnte ich ganz klar sehen, dass da diese Sehnsucht in mir ist, die Sehnsucht danach wieder mehr Leben reinzulassen. Denn wenn ich ganz ehrlich zu mir bin weiß ich: Ich trage schon seit einer ganzen Weile eine Rettungsweste, die ich so eigentlich gar nicht mehr brauche. 

 

Ich will wieder mehr Leben reinlassen

 

Es gab natürlich eine Zeit, in der war genau diese Rettungsweste dringend notwendig und ich war froh, dass ich sie mir jederzeit anziehen konnte. Sie war sozusagen meine helfende Hand, denn ich musste erst einmal lernen, nicht immer über meine Grenzen zu gehen. Auch mal Nein zu sagen und damit Ja zu mir selbst. Ich habe diesen Puffer gebraucht, um nicht jedes Mal wieder ins Straucheln zu kommen. Um überhaupt erst mal ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viel ich machen kann und mir dabei ehrliche Fragen zu stellen wie: Habe ich gerade die Energie, um auf diesen Geburtstag zu gehen, oder mache ich das nur, damit die andere Person nicht enttäuscht von mir ist? Genauso habe ich meine Rettungsweste aber auch für die Male gebraucht, bei denen ich doch zu weit gegangen bin. Hier musste ich andersrum für mich herausfinden, womit ich meinen Akku aufladen kann. Ich musste ausprobieren, wann mir eher die Ruhe hilft und wann die aufgestaute Energie einfach raus muss. All das habe ich inzwischen schon oft geübt und eigentlich weiß ich, dass ich gut auf mich aufpassen kann. Ich kann längst alleine schwimmen und mir vertrauen. Doch da ist trotzdem immer diese Stimme in meinem Kopf, die jeden Satz anfängt mit: „Aber Anna, man weiß ja nie“. Und so ist - ohne dass ich es bewusst gemerkt habe - aus meiner achtsamen Vorsicht immer öfter ein Schonen geworden. Ich hatte Angst, nicht bereit zu sein für so viel Leben und wollte nicht schon wieder von zu vielen Reizen überrollt werden. Deshalb bin ich auf Nummer sicher gegangen und habe meine Rettungsweste lieber noch ein bisschen länger anbehalten. Für den Fall der Fälle. Nur was ich dabei eben nicht bedacht habe: Ich schließe damit nicht nur das aus, was mich anstrengt und schnell überfordert - ich schließe noch so viel mehr aus. Denn was ist mit all den Erfahrungen, an denen ich wachse und vielleicht sogar etwas Neues über mich selbst lernen kann? Den Momenten, in denen ich voller stolz sein kann, weil ich spüre: Jetzt gerade habe ich es geschafft zu schwimmen und zwar ganz alleine. All diese Erlebnisse können mich vielleicht fordern, aber das heißt ja nicht immer direkt, dass sie mich über-fordern müssen. Auch wenn mir mein Kopf das oft noch erzählt. Doch ich muss eben nicht immer alles auf einmal in mich aufnehmen. Ich weite mich jedes Mal weiter aus und lasse ich immer ein bisschen mehr rein. So lange, bis es genug ist für den Augenblick. Und genau das ist doch auch der Tanz mit dem Leben, der mich in dem Buch so begeisterst hat. Es ist das hin und her bewegen in Leichtigkeit, bei dem ich Herausforderungen und Krisen zwar ihren Raum gebe, aber mich nicht mehr von ihnen lähmen lasse. Denn dafür bin ich eigentlich viel zu neugierig auf das Leben und all das, was es mir noch bringen wird.

 

Die Momente des kleinen Glücks

 

Und dieses Öffnen heißt auch, dass ich gleichzeitig mehr Raum habe, für all die schönen Augenblicke, in denen mich sonst oft selbst ausgebremst habe. So richtig bewusst geworden ist mir das in einer ganz kleinen Situation vor einer Weile, als mir jemand gesagt hat, wie toll es wäre, dass ich so eine große Begeisterungsfähigkeit hätte und mich für Dinge richtig faszinieren könnte. Und das hat mich irgendwie sehr berührt, weil es kein bewusstes Kompliment war, sondern mehr eine beiläufige Bemerkung in einem Nebensatz. Doch gerade die sind ja meist die ehrlichsten, weil sie ganz ohne Absicht sind. Sie war für mich besonders, weil ich mich dadurch selbst ein bisschen klarer gesehen habe. Ich kannte diese Seite von mir zwar, aber ich habe sie gar nicht bewusst wahrgenommen und vor allem nicht geschätzt bis zu dem Zeitpunkt. Und das erst mal zu erkennen, war wirklich schön. Balsam für die Seele sozusagen. Mein Herz hat sich dann ganz leicht angefühlt und gleichzeitig irgendwie auch schwer. Schwer, weil es ein so großes und tiefes Gefühl war. Die Art von Gefühl, bei der ich am liebsten gehabt hätte, dass meine Zeit für einen Moment stillsteht. Denn alles Neue, was dazukommt, hätte es einfach überrollen, oder mir „wegnehmen“ können. Aber ich habe gespürt, dass ich es eigentlich nicht schnell wieder gehenlassen wollte - zumindest dieses Mal nicht. Mir ist hier klar geworden, dass das normalerweise der Punkt ist, an dem ich mich selbst ausbremse und es mir nicht richtig erlaube, die Freude auch mal lange da sein zu lassen. Ich kann diese freudigen Augenblicke dann gar nicht so genießen, wie ich es eigentlich möchte, weil ich viel zu schnell über sie hinweglaufe. Ich denke immer, das Leben muss direkt weitergehen - und natürlich muss es das irgendwann. Aber es ist eben genau die Zeit dazwischen, die den Unterschied macht. Und deshalb wollte ich dieses Mal eben nicht direkt Nachrichten beantworten, oder mir irgendwelche Stories auf Instagram anschauen wollte. Ich wollte eine Weile einfach nur für mich sein, denn das war mein Moment. Und das hieß für mich dann, dass ich auf meinem Rückweg von der Verabredung extra einen kleinen Umweg nach Hause gelaufen bin, nur um noch ein bisschen länger mit mir und dem Gefühl zu bleiben. Ich habe mich richtig darin gesonnt, fast als wollte ich die Wärme in mir konservieren. Es konnte in mir Raum einnehmen und einfach nur da sein, weil ich jetzt die Kapazitäten dafür habe. Und genau da wusste ich: Jetzt schwimme ich nicht nur, ich gleite und lasse mich mit dem Leben treiben. Denn ich brauche keine Rettungsweste mehr.

 
 
 

Comments


bottom of page